Filmpolitischer Informationsdienst Nr. 232, März 2013

Von Max-Peter Heyne und Gabriele Leidloff

Für Dokumentarfilmer ist ein Online-Vertrieb heutzutage unerlässlich, um ein interessiertes Publikum zu erreichen – zumal die bisherigen TV-Partnerschaften aufzuweichen drohen. Das aber macht Arbeit.

Das Gesamtprogramm der diesjährigen Berlinale, insbesondere in den Sektionen Panorama, Forum und Perspektive Deutscher Film, führte wieder einmal deutlich vor Augen, dass die Dokumentar¬filme nicht nur thematisch interessanter, sondern auch stilistisch innovativer sind als viele Spiel¬filme. Beim Mixen von Gestaltungsmitteln, die früher als unvereinbar galten, haben sich der dänische Filmemacher Joshua Oppenheimer und seine Co-Regisseurin Christine Cynn am weitesten in heikle Grenzbereiche hinaus gewagt: In The Act Of Killing, Gewinner eines Panorama-Publikumspreises und des Preises der ökumenischen Jury, lassen die beiden früheren Auftragskiller der indonesischen Regierung deren Folter- und Tötungsmethoden an authentischen Orten oder im Studio nachinszenieren. Das Konzept der Scripted Reality-Fernsehserien wird also im Sinne eines investi¬gativen Journalismus zur Aufdeckung krimineller Aktionen genutzt: Nach dem indonesischen Militärputsch 1965 wurden innerhalb eines Jahres über eine Million vermeintlicher Kommunisten von willfährigen Paramilitärs und Kriminellen ermordet. Die Taten bleiben bis heute ungeahndet, die identifizierten Täter leben unbehelligt inmitten der sozial zerrissenen indonesischen Gesellschaft. Da die Männer auf ihren gesetzlosen Status bis heute stolz sind und keine Reue zeigen, ergeben sich bizarre, bisweilen über die Grenze des moralisch Erträglichen gehende Situationen, die im Dienste der aufklärerischen Absicht aber gerechtfertigt erscheinen.

Im Falle des Dokumentarfilms Alam Laysa Lana (A World Not Ours) ist die besondere Leistung die flüssig und doch abwechslungsreiche Kombination von aktuellen Aufnahmen und Videos aus den achtziger Jahren über das Leben im palästinensischen Flüchtlingslager Ain el-Helweh im Süd-Libanon, in welchem der im dänischen bzw. englischen Exil lebende Regisseur Mahdi Fleifel Teile seiner Kindheit verbracht hat. Fleifel gibt nicht nur Aufschluss über die schwierigen Lebensumstände, unter denen mehr als 70.000 Menschen auf einem Quadratkilometer seit über 60 Jahren zusammenleben müssen, sondern nutzt seine familiären und autobiografischen Bezüge, um die Folgen abstrakter Politik auf einer konkreten, persönlichen Ebene zu illustrieren und zugleich die eigene Rolle kritisch zu reflektieren. Der mit dem Friedensfilmpreis gewürdigte A World Not Ours war der formal gelungenste von mehreren Filmen auf der Berlinale, die den Nahostkonflikt aus arabischer Perspektive zeigen. Dass in Dokumentarfilmen die Kritik an der israelischen Besatzungspolitik die Sehnsüchte mancher Zuschauer nach diplomatischer Ausgewogenheit nicht erfüllen, wird aufgrund der zunehmenden Zahl arabisch produzierter Filme in Zukunft sicher öfter der Fall sein.

Der Forumsbeitrag Hélio Oiticica verwebt das tagebuchartige Filmmaterial des 1980 verstorbenen, brasilianischen Künstlers Hélio Oiticica, der mit seltener Intelligenz über sein Werk und sein Leben reflektieren konnte, zu einem Porträt. Dem ekstatischen Rausch der vielschichtigen Filmsequenzen zu folgen, erfordert äußerste Konzentration des Zuschauers und bietet Einblicke in die New Yorker Kunstszene der siebziger Jahre. Die eigenwillige Collage erhielt sowohl den Caligari- als auch den Forumspreis der internationalen Filmkritikervereinigung, Fipresci. New York ist auch Schauplatz der nur mit 7.000 US-Dollar budgetierten Langzeitbetrachtung Gut Renovation der Regisseurin Su Friedrich. Sie dokumentiert den Ausverkauf des Stadtteils Williamsburg, einem Arbeiterviertel Brooklyns, das 2005 zum reinen Wohngebiet deklariert wurde und in dessen Folge die produzierenden Betriebe, Handwerker und Künstlerlofts von Bauspekulanten, die man mit Steuergeschenken angelockt hatte, verdrängt wurden. Ein aus subjektiver Perspektive gefilmte, zornige Bestandsauf¬nahme der Veränderung eines Stadtviertels und Lebensstils, zugleich eine Fallstudie zur galoppierenden Gentrifizierung in den Städten.

Regisseur Sebastian Mez machte mit seinem Film Metamorphosen in der Reihe Perspektive Deutsches Kino auf eine der radioaktiv verseuchtesten Landschaften Europas im russischen Südural aufmerksam, dessen gespenstische Atmosphäre Mez mit elegischen, eindringlichen Schwarz-Weiß-Aufnahmen einfing. Interviews mit den letzten an diesem Unort freiwillig verbliebenen oder un¬glücklich gestrandeten Bewohnern runden das sehr bewusst und sorgfältig gestaltete, aufklärerische Dokument ab. „Was das Budget angeht, so musste ich mit ca. 8.000 Euro auskommen. Das ging nur, indem unendlich viel improvisiert wurde und bis auf die Assistentin in Russland niemand etwas verdient hat“, berichtet Regisseur Sebastian Mez.

So belegen die hier genannten Filme beispielhaft auch das krasse Missverhältnis zwischen Aufwand und Finanzierung, was oft zu jener prekären Lage führt, in der sich nach jüngsten Umfragen die meisten Dokumentarfilmer befinden. In Zeiten, in denen die Sendeplätze für Dokumentarisches europaweit weniger und die Beteiligung der öffentlich-rechtlichen Sender an den Produktionskosten immer kleiner werden, sind Alternativen zur bisherigen Produktion und Refinanzierung gefragt. Bei Diskussionen auf der Berlinale haben deshalb viele Arthouse- und Dokumentarfilmproduzenten für einen offensiveren Umgang mit Online-Vertriebswegen plädiert: Auch für Content-Anbieter von Autorenfilmen müsse lauten, die Interessen des Zielpublikums „über alle zur Verfügung stehenden Wege zu bedienen“, mahnte Ross Fitzsimons von Curzon Artificial Eye, einer der führenden britischen Distributionsfirmen für ausländische und Arthouse-Filme beim „Industry Talk“ auf dem European Film Market. Die Londoner verfügen nicht nur über eigene Kinos, sondern seit einigen Monaten auch über eine eigene VOD-Plattform, curzoncinemas.com, auf der eine Vielzahl euro¬päischer Autorenfilme – neue wie ältere – abrufbar sind.

Fitzsimons nannte Beispiele wie Lars von Triers Melancholia, der auf Curzons VOD-Website ein großer Erfolg ist, aber auch Fatih Akins Auf der anderen Seite, den die Londoner über einen Deal mit Sky via Pay-TV ausgewertet haben. „Damit erreichen wir potentiell Millionen britischer Haus¬halte mit einem deutsch-türkischen Spielfilm, an dem die britischen Verleiher gar kein Interesse haben“, so Fitzsimons. Cay Wesnigk vom Vorstand der AG Dok, der schon seit über zehn Jahren das Portal onlinefilm.org betreibt, beschreibt die Problematik ähnlich: Da die Konsumenten heutzutage vielfach nach dem Motto, „Das will ich haben und zwar sofort“, also nach dem Lustprinzip agieren, sei entscheidend, „noch vor einer Fernsehausstrahlung mit legalen Angeboten im Netz präsent zu sein“ bzw. in Absprache mit großen Plattformen oder Content-Anbietern wie Google/ YouTube das illegale Herunterladen zu verhindern oder mindestens zu erschweren. Regisseur Simon Klose, dessen aufschlussreicher Dokumentarfilm TPB AWK – The Pirate Bay Away Fron Keyboard über die schwedischen Internetaktivisten und Gründer der Piratenbewegung im Panorama lief, hatte seinen Film in Absprache mit der Berlinale zur Weltpremiere auf seiner eigenen Website für eine Gebühr als Online-Streaming angeboten.

Um „schneller und kreativer zu sein als die Verbrecher“, also mit legalen Angeboten vorauszueilen, müsse inzwischen ein erheblicher Zeit- und Arbeitsaufwand einkalkuliert werden, so Wesnigk. Das umfasst nicht nur die Pflege des aktuellen Angebots, sondern auch die ständige Anpassung an neue Software und Apps der Technologiekonzerne, mit denen Content abgerufen werden kann – ohne Förderung ein dauerhafter finanzieller Kraftakt. Auch Cay Wesnigk bestätigt aktuelle Umfrageer¬gebnisse, dass die juristischen Aktionen gegen illegale Portale wie kino.to das Bewusstsein bei vielen Konsumenten geschärft habe, die seither verstärkt auch bei onlinefilm.org anklicken. Mit durchschnittlich 30 online verkauften Filmen pro Tag sei die Onlinefilm AG zwar noch nicht profitabel, aber die Umsatzkurve zeige deutlich nach oben.

Ähnlich wie die AG Dok äußerte sich jüngst auch die Produzentenallianz „ausgesprochen besorgt über eine Entwicklung, in der sich die öffentlich-rechtlichen Sender zunehmend nicht mehr als verlässlicher Partner für die deutsche Kinofilmproduktion erweisen“ – sprich: bei der Produktion und den Sendeplätzen deutscher Filme weiter sparen. Wesnigk: „Man spart an der Produktion weg und baut gleichzeitig die Plattformen aus. Das wäre noch zu vertreten, wenn die Kreativen davon auch etwas hätten. Aber stattdessen sollen wir noch mehr Rechte abtreten und damit ist der kostendeckende Anteil vieler Filmemacher bedroht. Wenn man schon marktgemäß argumentiert, bleibt festzuhalten, dass es sich nicht um einen echten Markt handelt, wenn eine Seite die Konditionen bestimmt.“

ARD-Programmdirektor Volker Herres drückt das so aus: Damit mehr Sendeplätze für deutsche Spielfilme eingerichtet würden, „müsste es eine erheblich größere Anzahl neuer deutscher Kinoproduktionen geben, die für ein Millionenpublikum im Fernsehen attraktiv sind.“ Das sind Reizwörter für unabhängige Filmemacher wie US-Underground-Ikone Beth B., die ihre Verantwortung darin sieht, sich Themen aus ungewohnter Perspektive zu widmen und „Bild und Sprache nicht zu glätten“ wie es in Fernsehproduktionen geschieht. So hat sie für ihren neuen Dokumentarfilm Exposed – Porträts amerikanischer Burlesqueperformer, die nicht den üblichen Schönheitsvorstellungen entsprechen – der besseren Verwertung zuliebe nicht entschärft oder mit Aufnahmen von Modelkörpern angereichert. Das war der Wunsch jener TV-Sender, mit denen sie für dokumentarische Formate in den vergangenen Jahren zusammengearbeitet hat.