Filmpolitischer Informationsdienst Nr. 225, Mai 2012

Condorcet und das Ringen um ein gerechtes Bewertungssystem
Ein Gespräch mit Alfred Holighaus, dem Geschäftsführer der Deutschen Filmakademie.

Ellen Wietstock:
Der Deutsche Filmpreis 2012 ist vergeben, es herrscht Freude bei den Siegern und Enttäuschung bei den Verlierern. Wie hoch war die Wahlbeteiligung in diesem Jahr?

Alfred Holighaus:
Die Wahlbeteiligung lag bei deutlich über 50%. Gut die Hälfte der Akademiemitglieder stimmt ab. Das hängt mit zwei Faktoren zusammen. Einige Leute stimmen nicht ab, weil ihnen die Zeit fehlte, die eingereichten Filme komplett zu sichten. Es gibt auch Mitglieder, die in bestimmen Kategorien nicht abstimmen, weil sie die Leistungen in einzelnen Gewerken nicht bewerten wollen und können. Um ehrlich zu sein: Mir würde eine 80%-ige Quote Angst machen. Für mich ist es ein Indiz für eine gewisse Aufrichtigkeit im Umgang mit der Verantwortung.

Ellen Wietstock:
Im vergangenen Jahr erhielt der Film Der ganz große Traum, produziert von deutschfilm und Senator Film, mit 23 Stimmen eine Nominierungsprämie in Höhe von 250.000 €. Wie ist diese Entscheidung zustande gekommen?

Alfred Holighaus:
Die absolute Zahl kann ich nicht bestätigen, da wir sie nicht kennen. Wir hatten ein Wahlverfahren entwickelt, dwas eine sehr differenzierte Beurteilung der einzelnen Filme und Gewerke mit Hilfe einer Bewertungsskala ermöglichte. Dieses Verfahren führte dazu, dass Durchschnittswerte mehr zählten als die Anzahl der Stimmen. Es gab zwar ein Quorum, also eine Mindestanzahl von Stimmen, damit die Bewertung berücksichtigt werden konnte. Aber es ging primär nicht um die Stimmenanzahl, sondern um die Höhe der Bewertung.

Ellen Wietstock:
Ich finde dieses Bewertungsverfahren hoch kompliziert und schwer durchschaubar.

Alfred Holighaus:
Wir haben daraus Konsequenzen gezogen. Das Wahlverfahren im vergangenen Jahr verleitete dazu, – das haben wir unterschätzt – strategisch zu stimmen. Und wenn man strategisch stimmt, dann bei einer Wild Card. Nach den Erfahrungen haben wir einen renommierten Wahlforscher von der Uni¬versität in Ludwigshafen gebeten, unser Abstimmungsverfahren zu analysieren und festzustellen, welches Wahlsystem für unsere Belange das gerechteste ist. Er empfahl uns die seit dreihundert Jahren existierende Condorcet-Methode. Dieses Wahlverfahren wurde von dem französischen Philosoph Condorcet entwickelt, einem Zeitgenossen Voltaires. Es basiert auf der Idee, dass nur die Filme und die Einzelleistung die besten sein können, die im Paarvergleich mit allen anderen am Ende die meisten Stimmen haben. Dafür gibt es ein ganz einfaches Abstimmungssystem: Man nimmt alle Kandidaten, also die sechs nominierten Filme in der Kategorie bester Spielfilm, die drei nominierten Schauspieler, Regisseure usf., die von den Wählern in eine Reihenfolge gebracht werden. Dadurch kann man jeden mit jedem vergleichen und hat am Ende einen gerechten Sieger. Auch bei diesem System gab es bekanntlich einen Wild-Card-Sieger.

Ellen Wietstock:
Warum werden die Stimmenauszählungen für die einzelnen Gewinner nicht bekannt gegeben?

Alfred Holighaus:
Die DFA hat sich bei ihrer Gründung darauf festgelegt, die Anonymität zu wahren und niemanden zu beschädigen. Es gab auch noch nicht den Ruf danach. Wenn es ihn gibt, müssen wir uns damit auseinandersetzen.

Ellen Wietstock:
Die Frage ist doch, wie repräsentativ die Entscheidungen sind, wenn beispielsweise der beste Film 75 Stimmen hat und der zweite 50?

Alfred Holighaus:
Nein, die Stimmenanzahl in den Kategorien, in der es um hohe Preisgelder geht, bewegt sich schon im dreistelligen Bereich. Bei dem Nomierungsverfahren läuft es anders als in der Endabstimmung. Die Nominierungen werden bekanntlich von den einzelnen Gewerken festgelegt. In der Sektion Kamera/Bildgestaltung sind gut 70 Mitglieder, infolgedessen liegt die Anzahl der Stimmen für eine Nominierung tatsächlich im zweistelligen Bereich. Die Sektionen Produktion/Regie/Schauspieler sind zahlenmäßig anders bestückt. Über 700 Mitglieder haben in diesem Jahr abgestimmt, da kann jemand nicht mit 70 Stimmen die Lola gewonnen haben.

Ellen Wietstock:
Das jetzige Auswahlverfahren zum Deutschen Filmpreis wird als demokratisches Verfahren gepriesen. Demokratie hat mit Kunst nichts zu tun. Demokratie ist ein Verfahren, bei dem nicht immer das „Richtige“ herauskommt, wie wir aus der Geschichte wissen. In der Filmakademie herrscht große Unzufriedenheit, weil es zu viele Nachrücker gab. Wird auch über andere Auswahlverfahren nachgedacht, zum Beispiel über eine kleine, jährlich wechselnde Jury aus Mitgliedern, zusammengesetzt mit Hilfe eines Losverfahrens? Weg von dem hoch komplizierten Bewertungs¬system, dem kostenaufwendigen DVD-Versand, der notariellen Auswertung?

Alfred Holighaus:
Unzufrieden über die Nachrücker sind diejenigen, die mit der Vorauswahl einverstanden waren. Dann gibt es die Mitglieder, die mit der Vorauswahl unzufrieden sind, die plädieren für die Nach¬rücker. Es gibt ja eine Vorauswahlkommission, die aus dem Kreis der Mitglieder von den Mitgliedern gewählt wird. Diese Kommission ist weitgehend unabhängig, das heißt, wenn jemand etwas mit den Filmen zu tun hat, die im Rennen sind, kann derjenige nicht in der Jury sein. Es handelt sich aber durchaus um aktive Mitglieder. Ich betone das deshalb, weil auch das Gerücht umgeht, die Juroren seien meistens arbeitslos oder schon lange nicht mehr im Geschäft. Mit dieser Vorauswahlkommission sind aber auch viele Mitglieder unzufrieden. Die Argumente lauten, die Vorauswahl sei geschmäcklerisch, bevormundend, andere sagen, es sei eine große Hilfe, um überhaupt die Flut der Filme zu bewältigen. Es blieben immer noch 43 Filme in der berühmten Kiste, die zu sichten waren.

Grundsätzlich werden wir immer das Problem der Begehrlichkeiten haben, weil es um Geld geht. Ich glaube übrigens nicht an unabhängige Jurys, vielleicht ist mal der eine oder die andere monetär unabhängig, aber kein Mensch weiß, wie früher die Filmpreise vergeben worden sind. Es gibt kein für alle zufrieden stellendes System. Aber diskutiert wird erst so viel darüber, seit das System so transparent und demokratisch ist. Der Satz, Kunst ist nicht demokratisch, ist völlig richtig. Diese Erkenntnis muss meiner Meinung nach aber nicht bedeuten, dass ein Preis für Kunst nicht auch demokratisch entschieden werden kann.

Ellen Wietstock:
Transparent ist das Verfahren nicht.

Alfred Holighaus:
Ich finde es extrem offen. Es ist bekannt, welche Filme eingereicht werden, welche Leute in den Kommissionen sitzen, man weiß, wer abstimmungsberechtigt ist. Die Filmakademie zeigt während der Berlinale alle vorausgewählten Filme. Es gibt im Vorfeld der Verleihung Fachgespräche mit den nominierten Regisseuren, Produzenten, Cuttern, Tonmeistern, Musikern, die zusätzlich noch für eine inhaltliche Transparenz sorgen.

Ellen Wietstock:
Die Crux des Deutschen Filmpreises liegt meiner Meinung nach in der Janusköpfigkeit des Preises. Einerseits sollen künstlerische Leistungen ausgezeichnet werden, andererseits geht der größte Teil der Preisgelder an die Produzenten der Filme. Deswegen schwelt die immergrüne Debatte um E und U, um Arthouse- und Unterhaltungskino. Die Hersteller des Mainstream-Kinos melden Ansprüche am Filmpreis an, obwohl ihre – unbestreitbaren – Leistungen mit den Referenzfilmmitteln der FFA belohnt werden. Betrachtet man den Literaturbetrieb, dann wird sofort klar: Die Autoren der Wanderhure oder Charlotte Link sind nicht enttäuscht, wenn sie nicht den Deutschen Buchpreis oder den Kleist-Preis erhalten. Dan Brown oder Stephen King sind sicher nicht beleidigt, weil sie nicht zum Kreis der potentiellen Literatur-Nobelpreisträger gehören. In Stockholm gibt es auch eine Bandbreite – von Heinrich Böll und Günter Grass bis zum Lyriker, der selbst den Literaturkritikern der großen Zeitungen unbekannt war. Warum leuchtet das einigen Filmschaffenden nicht ein?

Alfred Holighaus:
Die Idee der Filmakademie-Gründer war, alle im Filmgeschäft tätigen Kreativen zusammenbringen, unabhängig davon, welche Art von Filmen sie herstellen. Das ist auch geglückt, wenn man erlebt, wie Filmschaffende miteinander reden und sich austauschen, egal, welche Genres sie bedienen und für welchen Markt sie arbeiten. Deshalb sollte nach dem Willen der Gründer der Filmpreis auch die gesamte Breite des Filmschaffens repräsentieren, eben auch das Unterhaltungskino. Nach meinen Erfahrungen geht es den Regisseuren, die die Besuchermillionäre im deutschen Kino herstellen, nicht darum, dass sie als Regisseur den Filmpreis bekommen, sondern sie wollen einzelne Leistungen ihres Teams gewürdigt wissen. Diese Leute kommen aber in dem gegenwärtigen Modell selten vor, weil die entsprechenden Filme nicht vorausgewählt werden. Das ist viel eher der Grund für die Wild Card. Die Diskussion geht nicht darum, dass der an der Kinokasse erfolgreichste Film auch den ersten Preis bekommen muss. Wir gestalten die Preisverleihung möglichst opulent, mit Fernsehübertragung, um zu zeigen, was das Kino bietet. Das tun wir aber dann nicht, wenn bestimmte populäre Titel fehlen und den Fernsehzuschauern einige Filme völlig unbekannt sind. Was die Moderation betrifft, so ist unser diesjähriger Versuch, die schwierigen Filme mit lustigen Beiträgen anzukündigen, nicht wirklich gelungen.

In Bezug auf die Empfänger der Preisgelder bin ich der Meinung, dass der Filmpreis ein Teil der staatlichen Filmförderung ist und somit an den Produzenten zur Herstellung eines neuen Films gehen sollte. Die Dotierung der Einzelpreise ist ja nicht zweckgebunden; es handelt sich eher um symbolische Preise, obwohl sich sicher jeder Filmkünstler über 10.000 € freut.

Ellen Wietstock:
Jedes Jahr starten im Frühjahr wegen der Modalitäten des Filmpreises zu viele deutsche Filme. Gibt es in der DFA Überlegungen, die Filmpreisverleihung wieder in den Sommer zu verlegen, um den einzelnen Filmen bessere Auswertungschancen zu geben?

Alfred Holighaus:
Wir haben uns gerade mit Vertretern der Branche – Verleiher, Kinobetreiber, Produzenten – getroffen, um dieses Problem zu besprechen. Eine Lösung haben wir noch nicht gefunden. Aber wir haben festgestellt, dass es mit einer Verschiebung nicht getan ist, weil es offenbar den monokausalen Zusammenhang zwischen dem Filmpreis und den vielen Filmstarts gar nicht gibt.